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Literary Research/Recherche littéraire 20.39-40 (2003): 401-404 Claudia Natterer, Faust als Künstler: Michail Bulgakovs Master i Margarita und Thomas Manns Doktor Faustus. Heidelberg: Universitätsverlag Winter/ "Beiträge zur slavischen Philologie," vol. 9, 2002; 257 pp.; ISBN: 3825314677; €38.00 Die Verwandlung der Faustfigur, als Verkörperung des modernen westlichen Menschens, vom Wissenschaftler — wie er an der Grenze zwischen Aufklärung und Romantik durch die Hineinprojezierung der Genieästhetik des 18. Jahrhunderts in den mythogenen Stoff der Renaissance erscheint — zum Künstler spätmodernistischen Types im Kontext der nationalsozialistischen "Zerstörung der Vernunft" und stalinistischen Hexenjagd, markiert eine der Umschlaglinien in der Diskursivierung der Moderne in den 30er und 40er Jahren des 20. Jahrhunderts. In der komparatistischen Untersuchung von Claudia Natterer wird diese Transformation des Paradigmas der Darstellung der Moderne typologisch herausgearbeitet, indem die beiden großen Künstlerromane der ersten Hälfte des Jahrhunderts, Thomas Manns Doktor Faustus (1947) und Michail Bulgakovs Der Meister und Margarita (1929-1940), als Faustromane in den Blick genommen werden. Im unüberschaubaren Feld der Faustforschung bietet das Buch erst einmal einen guten Überblick für angehende Fauststudiosi, der aber auch als Rekapitulation von Leseerfahrungen [enden seite 401] ehedem Faustbegeisterter gut lesbar ist, wobei man sanft und luzide zum Hauptgeschäft einer textnahen Interpretation von Bulgakovs "Sonnenuntergangsroman" hinübergeleitet wird, die sich durch beachtliches, den neueren Tendenzen der Doktor-Faustus-Forschung verpflichtetes Reflexionsniveau und solide Russischkenntnisse auszeichnet. Die Ausgangsthese der Untersuchung läßt in ihrer Deutlichkeit kaum zu wünschen übrig: "Der Faust des 20. Jahrhunderts ist Künstler." (36) Hand in Hand mit der Deutlichkeit der Prämisse geht die merkliche Zurückhaltung gegenüber einer Auslotung ihrer Implikationen, die die Problematik der Moderne betreffen und im Fall "Faust" unumgänglich scheinen. Die Autorin zieht es vor, durch behutsame Relativierungen einen Traditionszusammenhang der Fausttransformationen zu rekonstruieren, der am konsequentesten bei der Behandlung der "Antizipationen" der Ästhetisierung der Faustfigur bei Goethe durchgesetzt wird ("Faust als Künstler bei Goethe"). Die komparatistische Herausarbeitung der Transformationen der Faust-Gestalt beginnt mit dem entstehungsgeschichtlich späteren Roman Th. Manns, dessen typologischer Vorrang durch das "hohe Reflexionsniveau" (14) der Sekundärliteratur zu Doktor Faustus — im Vergleich mit den "positivistische[n] Materialsammlungen" zur Faust-Problematik bei Bulgakov — gerechtfertigt wird. Bei so angelegtem Niveaugefälle fungiert der ertste Teil der Untersuchung, der Th. Manns Roman gewidmet ist, als quasi methodologische Klärung und Präzisierung der zentralen Fragestellungen der Arbeit, die dann in der Lektüre von Bulgakovs Roman zum Tragen kommen. Die Nüchternheit gegenüber der Figur des namenlosen "dreimal romantischen" russischen Schriftstellers wird an dem dämonischen Musiker und dem Dämonismus der Musik im Doktor Faustus eingeübt. Dass die erste beiläufige und vorausweisende Erwähnung der Gnadenthematik als "das Hauptanliegen der Arbeit" (59) auf der selben Seite mit dem in einer Fussnote untergebrachten einschränkenden Hinweis auf Adorno, der dem Teufel im Doktor Faustus eine seiner Gestalten leiht, zusammenkommt, ist wohl ein glücklicher Zufall, dem zu folgen es sich gelohnt hätte. Der Teil über Doktor Faustus schliesst mit dem Nachweis der zentralen Bedeutung des "enge[n] Zusammenhang[s] zwischen Gnaden- und Künstlerproblematik" (71) für den Roman, was auf eine Soteriologie der Musik hinausläuft, deren paradigmatische Form gerade in Adornos Ästhetik zu finden ist. Wenn sich bei Th. Mann Fausts Verwandlung vom Wissenschaftler zum Künstler im Adornoschen Paradigma einer Soteriologie der Musik vollzieht, macht Bulgakov bei der Darstellung eines vergleichbaren Transformationsprozesses von der Gestalt des Schriftstellers Gebrauch, die in der russischen Kultur traditionell überbetont wird. Besondere Aufmerksamkeit [enden seite 402] verdient das Kapitel "Трижды романтическиий мастер [dreimal romantischer Meister] — Zur Tradition des Künstlerbildes in Rußland", das die Gründe für die Übernahme der Faustrolle durch den russischen "literator" klärt. Bei der Beantwortung der Frage, weshalb die Faustfigur bei Bulgakov durch einen Schriftsteller vertreten ist, setzt sich die Autorin mit der funktionellen Charakteristik des "poet" (Dichter) in der russischen Romantik auseinander, wobei an erster Stelle auf A. S. Puškin und sein programmatisches Gedicht Prorok (Der Prophet)[1] hingewiesen wird. "Die erste Funktion, die dem Dichter in der russischen Romantik zugeschrieben wird, ist diejenige als Prophet (Hervorhebung im Original, V.S.) [...]." (131) Die zweite Funktion des "poet" in der russischen Romantik, die als "spezifisch russisches Charakteristikum" (132) bezeichnet wird, ist das politische Engagement. "Es ist gerade diese Kombination (Hervorhebung im Original, V. S.), die das Bild des russischen romantischen Künstlers außergewöhnlich erscheinen läßt." (132-133) Im Lichte dieser Tradition spricht die Autorin quasi oxymoronisch von "einer politisch-kritischen Seherrolle" (138) des namenlosen Schriftstellers in Der Meister und Margarita.[2] Die zentrale Frage der Untersuchung nach dem Zusammenhang zwischen der Gnadenthematik und der Thematik des Künstlers, die im Teil über Doktor Faustus auf die Adornosche Soteriologie der Musik hinausläuft, wird im Teil über Der Meister und Margarita in eine Konstellation von Prophetie und politischem Engagement gestellt, die für das Bild des "poet" in der russischen Romantik charakteristisch ist und die in der postmodernistischen Situation in Sowjetrussland der 30er Jahren reaktiviert wird. Wenn man die wiederhollte fiktionale und biographische Verbrennung der Handschrift des "Romans" berücksichtigt, ist die liebevoll-skrupulöse Behandlung des Textes von Der Meister und Margarita hervorzuheben. Die Autorin schlägt drei überzeugende Verbesserungen der deutschen Übersetzung vor: 1) Wiederherstellung der komischen Hyperbolik von Korov'ev-Fagots "триста капель эфирной валерьянки" (dreihundert Tropfen Baldrian) (160), die in der Übersetzung zum farblosen "ich muß Baldrian nehmen..." zusammengeschrumpft ist; 2) Korrektion der Unterschiebung eines Adverbs in der Übersetzung des Schlüsselsatzes "Er hat nicht Licht verdient, sondern Ruhe, sprach Levi traurig", wo im Original ein Adjektiv steht: "— Он не заслужил света, он заслужил покой, — печальным голосом проговорил Левий." ("...sprach mit trauriger Stimme Levij"); die Autorin weist zu Recht darauf hin, dass diese Unterschiebung die "Interpretation der Ruhe als geringerer Form der Erlösung" (202, Anm. 270) privilegiert; 3) Wiederherstellung der traditionsträchtigen Wortverbindung "золотой век" (Goldenes Zeitalter) (233, Anm. 331), die in der Übersetzung unerkennbar als "glorreiche Zeit" wiedergegeben ist. Sowohl die [enden seite 403] Rehabilitierung der "Ruhe" als dem „Lichte" ebenbürtige — im Sinne von Volands "jedem [wird] das zuteil [...] woran er glaubt" — Form der Erlösung, als auch die Wiederherstellung des Wortlauts des "Goldenen Zeitalters" bestätigt die Maxime, dass "Manuskripte [nicht] brennen", — als Maxime der Beschäftigung mit Literatur. [1]. Bei der Übersetzung von zwei Versen aus Puškins Gedicht — "Восстань, пророк, и виждь, и внемли,/ Исполнись волею моей" ("Steh auf, Prophet, und sieh und vernimm,/ Erfülle meinen Willen."(131, Anm. 110) ist der Autorin einer der wenigen Fehlern der sich sonst durch solide Russischkenntnise auszeichnenden Arbeit unterlaufen: "исполнись" ist reflexiv und die korrekte Übersetzung des Verses lautet „Erfülle Dich mit meinem Willen". [2]. Was den vom Kommunismus geschaffenen Wertevakuum betrifft, in dem kurz nach der Wende die damals unglaublich populären „Hypnotiseure" (Kaschpirovskij und Co.) salonfähig wurden, verbindet Bulgakovs „Sonnenuntergangsroman" Prophetie und politische Intervention.
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